Freitag, 7. November 2008

1987

Es ist 1987. Ich bin in der vierten Klasse. Das erste Halbjahr ist nun fast um und die wohl wichtigste Entscheidung für die nächsten Jahre steht an: welche weiterführende Schule soll man in Zukunft besuchen?
Es ist Freitag. Der Schultag neigt sich dem Ende. Alle Kinder sitzen auf ihren Stühlen und können den Gong, der sie ins ersehnte Wochenende entlässt kaum erwarten. Frau G., meine damalige Klassenlehrerin fragt die Kinder, eines nach dem anderen, auf welche Schule es denn nach dem Sommer gehen möchte. Melanie und Sascha, die Zwillinge, möchten auf das Gymnasium. Matthias auf die Gesamtschule. Laura wird wohl auf die Realschule wechseln. Luigi, der erst vor ein paar Monaten aus Italien gekommen ist, muß wegen mangelnden Deutschkenntnissen mit der Hauptschule vorlieb nehmen. Auch Ersin wird auf die Hauptschule gehen.
Und Du S., auf welche Schule möchtest du denn gehen?
Auf’s Gymnasium, antworte ich ganz selbstverständlich. Und dann kam sie. Die Reaktion, die mein Leben nachhaltig prägen sollte. Frau G. wirft den Kopf in den Nacken und lacht aus vollem Halse über diese absurde Idee. Sie lacht gellend, minutenlang und scheint sich köstlich zu amüsieren. Im Klassenzimmer ist es mucksmäuschenstill. Alle Kinder schauen mich an. Ich laufe vor Scham rot an. In meinen Schläfen pocht und pulsiert es. Mein Hals fühlt sich an als wäre er zugeschnürt. Jetzt nur nicht weinen, denke ich und versuche, die Tränen wegzublinzeln. Mir war damals nicht bewusst wie ungeheuerlich mein Wunsch war. Ich, kleines Mädchen aus der Unterschicht. Tochter ausländischer Gastarbeiter. Auf ein Gymnasium? Sicherlich nicht. Das war damals nur Abkömmlingen der besseren Schichten zugänglich. Ganz sicher keinem Gastarbeiterkind. Niedergeschlagen gehe ich nach Hause. Natürlich erzähle ich zu Hause nichts von dem Vorfall, da ich mir nun, nach Frau G.’s Ausbruch sicher bin, unwissentlich ein wenig über die Stränge geschlagen zu haben. Ein wenig über meine Stränge geschlagen zu haben. Vielleicht täte ich besser daran, die Gesamtschule zu besuchen.
In der folgenden Woche ist Elternsprechtag. Meine Mutter sieht sich nicht nur mit Frau G. konfrontiert. Auch der Schuldirektor ist anwesend. Beide beteuern ihr, dass ihre Tochter für eine gymnasiale Schullaufbahn nicht geeignet sei. Gut, sie müsse mich nicht auf eine Hauptschule schicken, aber eine Gesamtschule wäre für mich mehr als genug. Meine Mutter kämpft wie eine Löwin und stellt klar, dass sie ihre Tochter auch dann auf das Gymnasium schicken würde, wenn die Grundschule sie für nicht bzw. vielleicht geeignet hält. Frau G. und der Direktor resignieren. Mit soviel Widerstand hatten sie nicht gerechnet.

Es ist 2001. Durch einen Zufall trifft meine Mutter nach Jahren auf meine alte Klassenlehrerin. Frau G. blinzelt und schaut meine Mutter an. Sind Sie nicht Frau E.? Die Mutter von S.? Ja, antwortet meine Mutter, die bin ich. Was ist denn aus S. geworden?, fragt Frau G.
Die hat ihr Abitur gemacht und studiert jetzt. Frau G. wird blass und wirkt betreten. Manchmal, sagt sie leise, manchmal können wir sehr ungerecht sein.

14 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Mir ist es so ähnlich ergangen: als Gastarbeiterkind in einem schwäbischen Dorf (schwer genug als einzig dunkelhaariges Mädchen weit und breit) aufgewachsen, in Deutsch immer Klassenbeste gewesen und sehr gute Voraussetzungen fürs Gymnasium gehabt - doch meine 'nette' Klassenlehrerin war der Meinung, dass ich in der Hauptschule besser aufgehoben wäre. Zum Glück war es auch meine Mutter, und mein acht Jahre älterer Bruder, die damals um mein Recht und meine Bildung gekämpft haben. Es kam eine Kinderpsychologin (aufgrund der Noten konnte meine 'nette' Klassenlehrerin eine Versetzung in die Hauptschule nicht begründen) vom Oberschulamt und prüfte mich einen ganzen Tag lang auf meine Intelligenz - mit dem Ergebnis, dass ich sehr wohl auf ein Gymnasium gehöre. Heute habe ich meinen M.A. in Neuerer deutscher Literatur. Der 'netten' Klassenlehrerin bin ich vor einigen Jahren in einer Bäckerei begegnet - und sie hat mich wieder als Menschen zweiter Klasse behandelt... ich könnte ein ganzes Buch füllen.
Laß und hoffen und darum kämpfen, dass unseren Kindern solche Demütigungen erspart bleiben.

Liebe Grüße und alles Gute
Anita

Anonym hat gesagt…

Ich frage mich eh, warum bereits in der vierten Klasse die Prognosen für den Schulabschluss abgegeben werden können ... Ich habe nur eine Hauptschulempfehlung bekommen, bin zur Realschule angemeldet worden, bin nach der sechsten Klasse in eine andere Stadt gezogen, habe meinen Realschulabschluss gemacht - und danach noch das Abitur.
Wenn ich meiner Frau B. nochmal begegnen würde ... hach, ich wüsste nicht, wie ich diesen inneren Reichsparteitag auskosten sollte ...

Kassiopeia hat gesagt…

Ich bin wirklich schockiert! Viele sprachen davon, wie blöd es sei um die Farbe des neuen US-amerikanischen Präsidenten so ein Gedöns zu machen. Aber es ist ein Riesending. Erst dies Woche hörte ich unsere serbischen Nachbarskinder haben sich die Woche gestritten. Die Geschwister pöberlten sich gegenseitig an, wie man nur mit einem Mädchen, dass schwarz wie "Scheiße" spielen könne. Man kann nicht wirklich von Gleichberechtigung sprechen, davon ist man in den Köpfen noch weit entfernt. Das seh ich an meiner Schwester. Die Leute sind dumm, wechseln beim Einkaufen die Kasse, weil sie ein Kopftuch trägt.

Deine Eltern haben sicherlich hart gekämpft...

Kassiopeia hat gesagt…

Tut mir leid, um die Rechtschreibfehler! Habe gleich auf Abschicken gedrückt, anstatt noch mal zu Lesen...

Anonym hat gesagt…

Wow....

Wir hatten in der Grundschule nur 2 türkischstämmige Schüler.
einer von ihnen besuchte danach die Hauptschule, was seinen Sprachkenntinissen schon angemessen war. Wobei sich allerdings die Frage stellt, wie die Sprachkenntnisse sich im Verlauf der Grundschulzeit bessern sollten, wenn die Klassen-/Deutschlehrerin ihn mit den Worten "Du an Tafel kommen" nach vorne ruft oder bei Fragen während des Unterrichts darauf verweist, daß alle anderen diese ausschweifenden Antworten nicht benötigen würden und er solle bitte nach der Stunde mit ihr darüber reden... Nach der Stunde hatte sie dann allerdings nie die Zeit und mußte weg.

Der andere ging danach auf die Sonderschule. Schulische Leistung kann ich nicht beurteilen, aber seine Sprachkenntnisse waren definitiv in Ordnung. Er war allerdings im Unterricht eher unruhig und frech und ein Störfaktor. Ich denke, das war mit der Grund dafür. Ob es gerecht war, wage ich noch zu bezweifeln.

Wer auf verhaltensauffällige Kinder (der eine Türke und auch ein deutscher Junge) mit Schlägen reagiert (sowohl der damalige Direktor/Musiklehrer als auch die Klassenlehrerin), ist wohl kaum qualifiziert, derart wichtige andere Entscheidungen für/über die Kinder zu treffen...

Ach ja, meine Grundschulzeit fand in einem kleinen Dorf in NRW von '79 bis '83 statt.

phreni hat gesagt…

dickes lob an deine mutter!

phreni hat gesagt…

übrigens gab es bei uns im städtchen eine lehrerfamilie, die 2 töchter und einen sohn hatte. eine richtig schöne schweizer bilderbuchfamilie. die älteste tochter war mit mir in der klasse und hat ordentliche leistungen abgeliefert aber keine herausragenden und ging auf die realschule. die mittlere tochter war sehr gut und wollte unbedingt aufs gymnasium. sie durfte aber nicht. ja, tatächlich… lohnt sich ja nicht wirklich, weil die frauen ja dann eh heiraten, kinder kriegen und daheim bleiben. *augenroll*
der jüngste, der junge, sollte aufs gymnasium. allerdings hatte er überhaupt kein interesse und hätte es nie geschafft.

Anonym hat gesagt…

Tolle Mutter hast du!

Das Engagement der Eltern scheint bei diesen – regelhaften – Benachteiligungen wirklich ausschlaggebend zu sein.

Anonym hat gesagt…

Super Mutter...

Aber ich behaupte ja jetzt, viel geaendert hat sich seitdem nicht.

Leider

Anonym hat gesagt…

as salamu aleikum :)

ich bin gerade durch einen totalen zufall auf eure seite gestoßen (habe in google nach momo / radost bokel gesucht...) und sitze nun vor dem pc und lese mich durch euren entzückenden blog!

achja, übrigens, ich bin konvertierte muslima aus österreich, mein mann ist tunesier und wir haben eine 3 jahre alte tochter namens noura und ich fand es so erfrischend zu lesen, wie ihr mit den ganz alltäglichen sorgen und vorkommnissen umgeht!

ganz liebe grüße aus österreich,
as salamu aleikum wa rahmatullahi wa barakatuhu! stephanie salma

Anonym hat gesagt…

Ich bin grad nicht wenig schockiert. Du schreibst '87 und nicht '57 oder '67 ... und es liest sich trotzdem wie aus der Steinzeit. Ich wusste nichts über solche Diskriminierungen (komme ja aus einer ganz anderen Welt). Danke. Danke für's Erzählen.

Anonym hat gesagt…

Tja, die Schulempfehlungen der ach-so-kompetenten Lehrer, die selbst keine Motivation für ihre Arbeit vorzuspielen schaffen. Gott sie Dank hatten wir gute Lehrer und trotzdem hartnäckige Eltern, sonst wären wir verloren.

Danke fürs Erzählen.

Anonym hat gesagt…

als ich 1976 eingeschult wurde, kam ich in eine Klasse in der es Kinder aus 10 Nationen gab. Zufällig war ich in der Klasse der sogenannten "Hortkinder" gelandet. Also Kinder deren Eltern beim größten Arbeitgeber der Stadt arbeiteten und nach der Schule in den betriebseigenen Hort gingen. Damals war es wohl noch so, dass man sich über die "Gäste" gefreut hat. Die Kinder und deren Eltern wurden von uns und unserem Eltern herzlich aufgenommen und unsere Klassenfeste waren immer die besten, schon alleine wegen des tollen Essens. Nach der vierten Klasse sind glaube ich alle sog. Gastarbeiterkinder auf das Gymnasium gegangen. Es sind Rechtsanwälte, Krankenschwestern und Ingenieure aus Ihnen geworden. Ob das am freundlichen Klima lag oder an der Förderung im Hort weiß ich nicht, aber irgendwann hat sich das gedreht, auch bei uns im Ort.
Ich habe es immer, schon als Kind als Bereicherung empfunden, wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, sozialen Hintergründen usw. um mich herum sind. Das mag eine arg romantische Haltung sein, aber ich bin damit immer gut gefahren. (und vielleicht lese ich deshalb, bis jetzt immer heimlich, hier im Blog mit.

Anonym hat gesagt…

Ach Mensch, ich bin gerade einmal rund durch die Gefühlswelt gelaufen. Von Schmunzeln zu Bestürzung, kalt ists mir den Rücken runter gelaufen, tieftraurig wurde ich, wütend und dann froh, so froh!!!
Tolle Mama! Tolles Du, denn als kleines Mädchen scheinst Du auch schon genau gewusst zu haben, was Du möchtest - finde ich super!