Donnerstag, 8. Januar 2009

die Wahrheit

Wir kamen etwa eine Stunde vor Abflug am Zürcher Flughafen an. Vor mir etwa vier bis fünf Leute. Das Check-in sollte also schnell gehen. Dachte ich zumindest. Bei dem Herrn vor mir gab es irgendein Problem und so vergingen die Minuten wie im Flug. Endlich sind wir an der Reihe. Sonst läuft alles reibungslos. Doch nicht an jenem Tag. Murphys Gesetz schlägt zu und jedes Problem, das eintreten kann tritt auch ein. Die Zeit scheint zu rasen. Die Dame am Schalter schiebt mir die Pässe und Tickets zu und mahnt mich zur Eile. Sie müssen laufen, Sie haben nur noch eine halbe Stunde bis zum Abflug. Sagen Sie an der Sicherheitskontrolle, daß Sie es eilig haben. Ein beklemmendes Gefühl steigt in mir auf. Wie soll ich denn laufen mit einem Kleinkind an der Hand, einem Baby, einer übervollen Wickeltasche und einer netten kleinen Nierenentzündung? Wir hasten in Richtung Sicherheitskontrolle. Dort sage ich auch, daß mein Flug in 20 Minuten geht. Nichts zu machen. Wir müssen trotzdem gründlich durchgecheckt werden. Wir eilen schnell weiter. Ich ziehe Aliya hinter mir her. Sie fängt an zu weinen. Ich versuche beruhigend auf sie einzureden und ihr zu erklären, daß wir uns beeilen müssen. Natürlich ohne Erfolg. Sie schluchzt weiter. Vor uns das erste Hinderniss. Eine Rolltreppe und kein Aufzug in der Nähe. Ich sage Aliya, daß sie dicht bei mir bleiben soll, doch sie traut sich nicht alleine. Also lasse ich sie oben stehen, fahre mit Junayd im Kinderwagen runter, stelle ihn dort ab und fahre nochmal hoch, um Aliya abzuholen. Die Zeit rast, vielleicht nur noch zehn Minuten bis zum Abflug und ich habe keine Ahnung wie weit es noch ist. Wir hasten weiter und wieder stehen wir vor einer Rolltreppe. Ich schaue mich um, wieder kein Aufzug in der Nähe. Ich bleibe unschlüssig stehen. Die Treppe ist extrem lang. Etwa dreimal so lang wie gewöhnlich. Ich weiß nicht, ob ich Aliya so lange oben alleine lassen kann. Die Zeit rast. Ich sage ihr, daß ich sie gleich abholen würde und fahre wieder alleine mit Junayd runter. Unten angekommen stelle ich ihn wieder an die Seite und mache mich daran wieder hochzufahren. Mir schnürt es die Kehle zu. Was für ein Schreck. Die zweite Rolltreppe führt nicht nach oben, sondern ebenfalls nach unten. Mein Herz fängt an zu pochen. Ganz laut. Es ist kein Aufzug in Sicht, kein Flughafenpersonal. Ich gerate in Panik und bitte jemanden um Hilfe. Der zuckt mit den Achseln, murmelt etwas vor sich hin und geht weiter. Hat er denn nicht gesehen ich welch misslicher Lage ich mich befinde? Ein Kind unten, eines oben und keine Möglichkeit es zu erreichen. Ich sehe die Leute auf der Rolltreppe an. Und da erkenne ich sie. Die Wahrheit: Von denen wird mir niemand helfen. Alle schauen stoisch vor sich hin. Keiner reagiert auf meine verzweifelten Rufe. Also stürze ich mich auf die Rolltreppe und fange an hinaufzulaufen. Die Rolltreppe scheint unendlich lang zu sein, meine schlechte Kondition und die Nierenentzündung tun ihr Übriges dazu. Ich habe ein Drittel geschafft und mobilisiere meine letzten Reserven. Nach zwei Drittel weiß ich, daß ich es nicht schaffen werde. Ich rufe nach oben und bitte darum, mir mein Kind zu bringen. Die Tränen halte ich schon nicht mehr zurück. Ein älterer Herr dreht sich um und bittet andere, die weiter oben stehen, das Kind mitzubringen. Nichts. In Windeseile dreht sich der alte Inder um, läßt seine blinde Tochter alleine weiterfahren und rennt nun seinerseits die Rolltreppe rauf. Ich zittere am ganzen Körper, die Tränen wollen nicht versiegen, die Nierenschmerzen sind fast unerträglich. Hat er sie? fragt mich die etwa 35-jährige blinde Inderin. Da taucht plötzlich der alte Inder wieder auf, mit Aliya auf dem Arm. Ich bin so unendlich dankbar. Doch es bleibt keine Zeit. Wir steigen schnell in den Shuttle, der uns zum richtigen Gate bringen soll und sprinten dann weiter. Wir sind die letzten, doch wir schaffen es noch fast rechtzeitig.

So schlimm und schrecklich ist mir das in Erinnerung, daß ich es nicht geschafft habe darüber zu schreiben. Zu welch schändlicher Gesellschaft entwickeln wir uns, wenn eine verzweifelte Mutter, alleine mit zwei Kindern keinerlei Hilfe geboten wird? Nicht einmal ein kläglicher Versuch? Wenn nicht zufällig der Inder aufgetaucht wäre...? Nicht auszudenken.

18 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hätte ich eine Antwort, eine Erklärung ich würde sie Dir geben. Ich habe aber keine.

In was für einer Gesellschaft wir leben? Ich würde sagen, in der, die wir uns schaffen und in einer, die wir scheinbar verdienen. Wir scheinen uns eine Gesellschaft der Egoisten und Stumpfdenker herbei zu sehnen, in der sich jeder selbst der nächste ist.

Ich hoffe, dass sich die Menschen am Flughafen in Grund und Boden schämen für ihr Verhalten. In einer ruhigen Minute. Und ich wünsche ihnen, dass sie in einer misslichen Lage Hilfe bekommen, damit ihre Scham noch größer ist, dass sie nicht geholfen haben, aber ihnen geholfen wird.

Behandle jeden so, wie Du behandelt werden möchtest – vielleicht hassen sich diese Menschen so abgrundtief, dass sie nicht anders können.

Wie gesagt: ich habe keine Antwort. Es macht mich nur traurig, das zu lesen.

Anonym hat gesagt…

ich hab tränen in den augen und bin voller mitleid mit dir und voller wut auf die schweigende masse. ich kann so nachfühlen, wie es dir gegangen sein muss, das eine kind oben, das andere unten und diese panik. so sehr. ich wünsche dir, dass du das gut verarbeiten kannst und nicht zu lange dran knabberst - einer hat dann immerhin geholfen, die anderen werden irgendwann auf irgendeine art und weise für ihre ignoranz bestraft.

Anonym hat gesagt…

Ich bin zwar eigentlich schon immer recht zynisch und erwarte das schlechteste von allen, aber das bestürzt mich trotzdem.

Martina hat gesagt…

Tss... unglaublich... Du hast mein volles Mitgefühl.

Und Hilfe kommt meistens von Seiten, die selbst ganz gut Hilfestellung gebrauchen könn(t)en - verstehe das, wer mag.

LG Martina

IO hat gesagt…

Das tut mir so leid - das ist wirklich schlimm und absolut inakzeptabel. Was denken sich diese Menschen eigentlich - vermutlich gar nichts .. ich weiß ...

Roevardotter hat gesagt…

Welch furchtbare Situation. Ich habe Gänsehaut und der Frosch steckt tief im Hals. Traurig das an dem Tag so viele mit sich selbst beschäftigte und wenig helfende Menschen unterwegs waren.

Schön das es aber auch anders geht. Erleben sie, ich und auch andere immer wieder. Es tut mir leid das sie diese Situation so erleben mussten.

Ich hoffe, das sie mit diesem Erlebnis leben lernen können und es ihnen wieder besser geht.

die besten wünsche und hoffnung auf mehr menschlichkeit und Solidarität in unserer Welt.

Anonym hat gesagt…

Hallo,

ich habe mir die schrecklich Geschichte durchgelesen und einige meiner Reiseerlebnisse wiederentdeckt (Berliner Hauptbahnhof, Zug fährt gleich (aufgrund Verspätung des ersten Zuges) in "tief" ab, wir sind aber noch oben und schwanger und Kind schleife ich am Arm hinterher usw. Der ICE mit gebuchten Sitzen ist diesmal wieder verkehrt zusammen gesetzt etc. Wir sind drinnen, ich heule)

Aber ich will auch entwarnen. Die Menschen haben deine Situation vermutlich nicht richtig eingeschätzt. Wer um Himmels willen ist denn so schlecht? Es waren an dem Tag ansonsten lauter Massenmörder unterwegs. Ich glaube eher, dass sie unaufmerksam waren.

Wenn ich mit Kinderwagen in die Stadt gehe, rechne ich schon gar nicht damit, dass mir jemand die Tür aufhält und bin dann lieber dankbar und erfreut, falls es doch jemand tut.

Leider fiel mir auch schon die Tür entgegen als mein Freund vor mir in eine Geschäft ging. Daher weiß ich, die Menschen machen das nicht unbedingt mit Absicht.

Viele Grüße
Heike

Anonym hat gesagt…

(Hallo erstmal, ich lese seit einiger Zeit still hier mit und mag diesen Blog sehr gerne, weil er so schön geschrieben ist.)

Diese Geschichte hat auch mir als kinderloser Studentin einen Schauer über den Rücken getrieben, wie mag das sich dann erst für eine Mutter anfühlen?

Ich hab mal gelernt, dass man in Notlagen Leute konkret ansprechen soll, also nicht "Hilfe!" schreien, denn dann fühlt sich wirklich keiner angesprochen, sondern "Hallo Sie, bitte helfen Sie mir!" Die Situation hört sich für mich so an, als ob Sie und der ältere Mann das getan hätten und es hat trotzdem keiner reagiert und das macht mich auch sehr traurig. Man kann es nur damit erklären, dass die Menschen sich nichts denken, man kann es nicht damit entschuldigen und es sollte für uns ein Anstoss sein, mit offeneren Augen durch den Alltag zu gehen.

Ich hoffe, es geht Ihnen jetzt inzwischen etwas besser.

Viele liebe Grüße,
Ansku

Anonym hat gesagt…

da schnürt es mir richtig den magen zusammen wenn ich das lese.
aber auch ich habe keine worte parat ausser die gewissheit, dass nicht alle so sind und das wir unsere kinder zu offenen hilfsbereiten menschen erziehen müssen. wir müssen vorbilder sein, die mit offenen augen durchs leben gehen und helfen wo hilfe nötig ist oder zumindest welche anbieten.
ich hoffe sehr, es geht dir besser und du kannst das erlebte schnell verarbeiten!

alles liebe schick ich dir!

sandra hat gesagt…

da kriegt man echt tränen in die Augen.
echt ein Armutszeugnis das nur der Inder(auch noch älter und selbst mit seiner blinden tochter unterwegs)geholfen hat. Seien wir im dankbar!

Anonym hat gesagt…

Es ist wie immer: Menschen die eine eigene Schwäche haben, helfen anderen Schwachen. Denjenigen die ohnehin nur sich selbst sehen, bleibt verschlossen, wenn ein Mensch in Not ist.

Vermutlich war es aber nur wie immer: Keiner fühlte sich angesprochen. Und einige haben bestimmt auch nicht verstanden, wo das Problem war - da bin ich ganz offen, ich war auch mal kinderlos und da hab ich noch ganz andere Dinge zumindest gesagt.

Aber eins hab ich in meinen gut zwei Jahren Muttersein gelernt. Die Menschheit ist nicht so schlecht, wie wir sie immer machen. Es gibt viele, die unerwartet helfen. Und wirklich niemand hat mir bisher Hilfe verwehrt, wenn ich direkt gefragt habe. (Vielleicht wäre es besser vor dem Losfahren jemandem das zweite Kind anzuvertrauen und dann gemeinsam runterzufahren. Aber das ist ja nun "vergossene Milch".)

Versteh mich bitte nicht falsch. Mir tut es sehr leid, was du da erlebt hast. Ich hoffe sehr, du hast jetzt nicht bis in alle Zeit Angst mit beiden Kindern allein unterwegs zu sein. und ich wäre gern dabei gewesen - als helfende Hand.
Lass dich mal trösten.

Kassiopeia hat gesagt…

Ich bin richtig geschockt und hab selber Tränen in den Augen, wie mag es dir da wohl gehen?!

Ich wünsche dir von Herzen, dass du in nächster Zeit von einem ganz anderem Erlebnis berichten kannst! Damit dein Glauben an die Menschheit einigermaßen wieder ins Gleichgewicht gerät?!
Die Ablehnung und das Wegsehen hier ist wohl vielschichtet und schlichtweg grausam.

Anonym hat gesagt…

Mir laufen immer noch die Tränen herunter, habe Gänsehaut am ganzen Körper und während ich Deinen Bericht gelesen habe, ists mir ganz kalt geworden. Ich fühle aus ganzem Herzen mit Dir und hoffe, dass Du dieses Erlebnis bald durch ein ganz und gar konträres ersetzen kannst.
Trotz allem - vielleicht gelingt es Dir, das Geschehene umzukehren und Dich darüber zu freuen, dass dieser wunderbare Mann Dir geholfen hat?!
Alles erdenklich Liebe!

Minchen hat gesagt…

Oh Mann,
ja, da habe ich nun auch dicke Tränen in den Augen!
Mir ist auch schon ähnliches passiert...das arme Kind! Und die noch armseligere Gesellschaft!!! Denkt denn wirklich nur jeder an sich und sein eigenes Wohl?
Es fehlen einem schlichtweg die Worte!!!
Alles liebe,
Jasmin

Anonym hat gesagt…

Oh weh! Und ich hab Dir noch vorher zum Fliegen geraten und von meinen positiven Erlebnissen berichtet...
Es ist wirklich grauenvoll, dass alle anderen weg gehört haben und ich glaube nicht, dass man es verstehen kann und schon gar nicht muss.
Erstaunlich finde ich nur, dass solch eine Situation in Brasilien, wo wir fast drei Jahre bis letzten Oktober gewohnt haben, undenkbar gewesen wäre. Da muss ich in meiner Not niemanden direkt ansprechen, damit er reagiert, wenn Mütter mit Kindern Hilfe benötigen. Allerdings ist die brasilianische Gesellschaft aus anderen irgendwie auch ähnlichen Gründen nicht wirklich ein Musterbeispiel (soziale Unterschiede, etc.)... Schon komisch aber, dass dort bei Hilfeanforderungen lieber und leidenschaftlicher geholfen wird, als hier in unserer westeuropäischen Kultur.

Anonym hat gesagt…

Liebe Journaliya,

dieses Erlebnis muss für Sie wirklich ein Albtraum gewesen sein. Hoffentlich kommen Sie und Ihre Kinder gut darüber hinweg.

Für das nächste Mal (sofern Sie nicht erstmal generell vom Alleinereisen mit Ihren zwei Mäusen die Nase voll haben) hätte ich ein paar Tipps:

Große Flughäfen (z. B. auch Zürich) bieten auf Anfrage besondere Servicedienste auch für Mütter und Väter an. Wenn Sie also nicht gerade spontan fliegen müssen, sondern einige Zeit vorher bereits wissen, wann Sie fliegen, können Sie diesen Service nutzen. Ein Mitarbeiter kann Sie z. B. vom Schalter der Fluggesellschaft (bei manchen Flughäfen sogar ab Parkplatz/Haltestelle) bis zum Einstieg in das Flugzeug begleiten. Er weiß, wo die Aufzüge sind, er kümmert sich um die Kinder, das Gepäck etc. Ich habe diesen Service selbst schon häufiger genutzt - das entspannt ungemein. Allerdings müssen Sie dann mindestesns 90 besser noch 120 Minuten vor Abflug am Flughafen sein, damit alles in Ruhe ablaufen kann. Dann bleibt aber auch genügend Zeit für alle Windel-, Still-, Fütter- und sonstigen Notfälle.

Ich hoffe, Ihr nächster Flug wird - vielleicht auch mit einer solchen Unterstützung, besser laufen!

eine Familie wie andere auch hat gesagt…

@Anonym: vielen Dank für die Tipps, ein solcher Service war mir bislang nicht bekannt.

@chrizzonik: ja eben das ist ja gerade das Problem: nämlich, daß die Hilfe von jemanden kam, der einem ganz anderen Kulturkreis angehört. Das ist ja das Schlimme! Kein Westeuropäer, der einen Funken Barmherzigkeit im Herzen hatte. Das ist was mich schaudern läßt, denn ich und meine Familie, wir leben hier, sind hier geboren und werden wohl auch hier sterben, dh., daß UNSERE Gesellschaft fast komplett infiziert ist, mit... ja womit..? Nennen wir es vorerst Egoismus.

Anonym hat gesagt…

Tja, beim lesen Deines Berichtes. Hätte ich beinahe gesagt. Willkommen in Deutschland. Zumindest habe ich ähnliches schon mehr als einmal hier erlebt. Wirklich bewußt wird mir dies immer, wenn ich von Italien wieder nach D reise. Emotionale Kälte und Egoismus. Mehr Schein als Sein. --- Fazit: Man kann nur selbst sehen nicht derartig zu verrohen.
Alles Gute für Dich und Deine Familie!